Hamlet
Ballett von Cathy Marston
Musik von Philip Feeney,
Alfred Schnittke u.a.
Tagesbesetzung & Infos
Premiere
- nach Motiven der Tragödie "Hamlet, Prinz von Dänemark" von William Shakespeare
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Geschichte
Der König ist tot und die Welt aus den Fugen geraten für Hamlet, den Prinzen von Dänemark. Statt öffentlich zu trauern, heiratet seine Mutter ausgerechnet den Mann, den Hamlet für den Mörder seines Vaters hält. „Selbst im Fall eines Sperlings liegt besondere Vorausdeutung“, doch zu dem ungeheuerlichen Verlust und Verrat am verzweifelten Prinzen schweigt die Natur: Keine Erde tut sich auf, kein göttlicher Blitz fährt herab, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Als Hamlet beschließt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und den Tod seines Vaters zu rächen, setzt er eine blutige Tragödie ungeahnten Ausmaßes in Gang …William Shakespeares düsteres Vergeltungsdrama „Hamlet, Prince of Denmark“ zählt zu den philosophischsten Werken des englischen Dichterfürsten. In ihm entwirft Shakespeare das verdichtete Portrait eines Schwellenmenschen zwischen Mittelalter und Moderne, dem kein göttlicher Ratsspruch mehr Handlungsorientierung bietet. Im vergeblichen Ringen um Erkenntnis bleibt Hamlet zurückgeworfen auf sein eigenes menschliches Urteilsvermögen, das jedoch, getrübt von Trauer um den Verlust seines Vaters und Enttäuschung über die Wiederverheiratung seiner Mutter, blind ist für größere Zusammenhänge und nicht nur ihn geradewegs in die Katastrophe führt: Da ist seine Mutter, Gertrude, die jedes Opfer für ihren Sohn zu bringen bereit ist. Und da ist die junge Ophelia, die unschuldiges Opfer seines selbst auferlegten Rachefeldzugs wird. Sie beide werden an ihrer Liebe zu Hamlet scheitern und am Ende ihr Leben für ihn lassen.
Als Spezialistin für die Vertanzung großer Literaturklassiker überraschte die britische Choreografin Cathy Marston das Gelsenkirchener Publikum in der Vergangenheit mit ihren ungewöhnlichen Perspektiven auf Strawinskys „Orpheus“ und die „Drei Schwestern“ nach Motiven von Anton Tschechows gleichnamigem Drama. Auf Grundlage von William Shakespeares 1603 erschienener „Hamlet“-Tragödie entwirft sie für das Ballett im Revier nun im Kleinen Haus ein intimes Tanz-Drama über Liebe, Rache und Verlust. -
Mitwirkende
- Inszenierung und Choreografie Cathy Marston
- Bühne und Kostüm Ines Alda
- Musikalisches Arrangement Philip Feeney
- Dramaturgie Anna Grundmeier
- Licht Andreas Gutzmer
- Ballettmeister Deirdre Chapman Lynne Charles
- Fechtchoreografie Oliver Sproll
- Mit
- Hamlet, Prinz von Dänemark Louiz Rodrigues / Valentin Juteau
- Claudius, Hamlets Onkel Ledian Soto
- König Hamlet, Hamlets Vater José Urrutia
- Polonius, Oberkämmerer Carlos Contreras
- Laertes, Sohn des Polonius Valentin Juteau / Carlos Contreras
- Gertrude, Hamlets Mutter Bridget Breiner / Bridgett Zehr
- Ophelia, Tochter des Polonius Tessa Vanheusden / Sarah-Lee Chapman
- Innere Stimmen Francesca Berruto Sarah-Lee Chapman Hitomi Kuhara Sara Zinna
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Pressestimmen
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Wie fühlt sich das an? Die Ohnmacht und der Orientierungsverlust eines Menschen, der sich wie auf einer schwankenden Nussschale im Ozean dem Strudel einer Zeit der Umbrüche ausgesetzt sieht? Dieses Gefühl einer aus den Fugen brechenden Welt prägte trotz florierender Umstände die Wahrnehmung des Elisabethanischen Zeitalters.
Und es scheint sich viereinhalb Jahrhunderte später heute in Europa zu wiederholen. Diese aufschlussreiche Parallele legt die englische Choreografin Cathy Marston nahe. Sie hat „Hamlet“, Shakespeares vielschichtiges Gedankendrama im Gewand einer Tragödie, als Reflektion über jenes Zeitgefühl auf die Tanzbühne des Musiktheaters im Revier (MiR) gebracht. Ein außergewöhnlich anspruchsvoller, spannender, keineswegs bequemer Abend ist das Ergebnis. Die Premiere im Kleinen Haus fand ausgiebigen Beifall.
Wie funktioniert Shakespeares philosophisch geprägtes Nachdenken über Anfechtungen, Sinn und Ziel der eigenen Existenz im sprachlosen Tanz? Das scheint nicht aufzugehen. Doch Cathy Marston findet eine phantastische Lösung. Ihr getanztes Kammerspiel wird zum Hall-Raum einer von Selbstzweifeln geprägten Hassliebe in der Beziehung zwischen Hamlet, dem melancholischen verhinderten Helden, und seiner Mutter Gertrude. Und sie zieht dem Geschehen einen doppelten Boden ein. Aus der Perspektive der aufgewerteten Mutter erzählt sie es nach einem grandiosen, durch einen Erinnerungstrunk ausgelösten Solo als Rückblende voller Zeitsprünge wie in Trance. Man muss seinen Shakespeare schon recht genau kennen, um all die kleinen Abweichungen zu gewichten.
Cathy Marston hat ihrer Vorliebe für große literarische Stoffe als Ballett-Vorlage an diesem Haus schon mit Strawinskys „Orpheus“ und, noch überzeugender, mit „Drei Schwestern“ nach Tschechow frönen dürfen. Ihr „Hamlet“ indes überflügelt das bei weitem. Er ist eine Einladung an das Publikum, sich auf eine vertiefte Reflektion einzulassen.
Seinen Erfolg verdankt dieser Abend drei Faktoren. Der klugen Entscheidung, die Gertrude mit der faszinierend ausdrucksstarken Gelsenkirchener Ballettchefin Bridget Breiner zu besetzen. Zweites Plus ist eine außergewöhnliche Tanzsprache. Sie bricht die fließende Eleganz des klassischen Tanzes und des virtuosen, symbolisch aufgeladenen Spiels mit dem Degen durch ein expressiv aufgeladenes gegenläufiges, die Gliedmaßen spastisch verrenkendes und erstarrendes Bewegungsvokabular. Das erlaubt, intimste Regungen zu übermitteln. Dritter Faktor für das Gelingen ist die wie ein Echolot seelischer Tiefenschichten und wie ein Zerrspiegel funktionierende musikalische Collage des englischen Ballettkomponisten Philip Feeney. Er kombiniert fünf Ausschnitte aus einer eigenen „Hamlet“-Komposition von 2008 mit Schnipseln von Alfred Schnittke, Arvo Pärt und dem in diesem Kontext überraschend modern klingenden englischen Barock-Meister Henry Purcell.
Ausstatterin Ines Alda deutet durch raffinierten Gewänder den historischen Hintergrund und mit zerborstenen, sich zum glatten Quadrat fügenden schwarzen Bruchstücken vor dem Halbrund eines metallenen, transparenten Vorhangs die aus den Fugen gebrochene Welt an. Das Ballett im Revier tanzt das famos. Neben Bridget Breiner als Gertrude, die sich für den Sohn opfert, und Louiz Rodrigues als zwiespältigem Hamlet imponieren aus dem Ballett im Revier Ledian Soto als überlebender Regent Claudius, Tessa Vanheusden als zart beseelte Ophelia, José Urrutia als sterbender König, der nicht als Geist sondern leibhaftig erscheint, Carlos Contreras als Polonius, Valentin Juteau als Laertes und Francesca Berruto, Sarah-Lee Chapman, Hitomi Kuhara und Sara Zinna als vier innere Stimmen.
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Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Die Menschen stehen mit eingefrorenen Bewegungen da, als hätte jemand die Stopp-Taste gedrückt. Nur eine Frau tanzt sich mit verzweifelten Gesten durch diese erstarrte Welt, wird sie zu Leben erwecken. Das Eröffnungstableau von Cathy Marstons Choreografie nach Shakespeares Schauspielklassiker „Hamlet“ dokumentiert, auf wen sich der Fokus richtet: auf Hamlets Mutter Gertrude. Das Gelsenkirchener Ballett feierte im Kleinen Haus des Musiktheaters eine zufrieden aufgenommene Premiere.
Die britische Choreografin, zum dritten Mal zu Gast bei der Compagnie, widmet sich nach Tschechows „Drei Schwestern“ erneut der Verwandlung eines Literaturklassikers in überraschende, expressive Bewegungskunst. Auch diesmal extrahiert sie aus der Vorlage eine Essenz, ihre Essenz. Das Interesse gilt weniger dem Rachefuror des Dänenprinzen denn der eher kleinen Frauenrolle. Marston befragt die Tragödie aus der Perspektive der Mutter, die ihren Sohn zu retten versucht. Ballettchefin Bridget Breiner selbst tanzt diese Gertrude mit enormer Kraft und der königlichen Eleganz einer echten Ballerina, wenn sie mit geschmeidigen Bewegungen, dem Vokabular zeitgenössischen Tanzes und klassischen Balletts Verzweiflung, Trauer und Ohnmacht intensiv Ausdruck verleiht. Auch wenn ihr dabei manche Szene zu theatralisch, zu übertrieben dramatisch gerät. Die komplette Compagnie präsentiert sich auf tänzerisch enorm hohem Niveau. Athletische Akzente setzt Louiz Rodrigues als verzweifelt schwacher Hamlet, dem die Königskrone im wahrsten Sinne des Wortes zu groß ist. Ledian Sodeto tanzt mit starken Posen den verräterischen Claudius, und Tessa Vanheusden spiegelt sich als Ophelia in der Figur der Gertrude.
Ein gelungener Kunstgriff verlegt das Geschehen als Albtraum in den Kopf Gertrudes: Es sind die vier „inneren Stimmen“, die Francesca Berruto, Sarah-Lee Chapman, Hitomi Kuhara und Sara Zinna federleicht und elfengleich tanzen. Wenn Carlos Contreras als Polonius oder Valentin Juteau als Laertes mit dem Degen tanzen, wirkt das zirzensisch, erinnert allerdings beim Kämpfen an verstaubte Bühneninszenierungen.
Kongenial interpretiert und inspiriert das Handlungsballett die Musikcollage von Philip Feeney (vom Band) mit Klängen von Alfred Schnittke, Henry Purcell und Arvo Pärt. Surreal der Schlussmoment, wenn Mutter und Sohn zur verzerrten „Stille Nacht“ sterben.
Seinen Shakespeare sollte gut kennen, wer den einzelnen Szenen folgen will. Auf der reduzierten, eisgrauen Einheitsbühne von Ines Alda, die ein halbrunder Vorhang aus Metallketten dominiert, setzen sich die Szenen zusammen wie das Puzzle, das die Figuren aus vier Steinblöcken immer wieder vergeblich ordnen. Ihre Welt ist irreparabel aus den Fugen geraten. Tänzerisch ein großer Abend.
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Das Stück, von der englischen Choreographin Cathy Marston nach der klassischen Vorlage des elisabethanischen Autors William Shakespeare bearbeitet, müsste eigentlich Gertrude heißen – denn die Mutter Hamlets ist die große, starke Frau dieser Rache- und Vergeltungstragödie. Sie ist fast in jeder Minute des Balletts präsent, sie schaltet und waltet, sie opfert sich für ihren „schwachen“ Sohn, der sich in Vorwürfen und Eitelkeiten, Schwafeleien und Philosophie-Fiktion zerreibt. Seine Liebe zu Ophelia: ein Gegenentwurf für eine echte, tiefe, verständnisvolle Beziehung. Gertrude dagegen spielt Mutterrolle und Thronfolge, Todestrauer und Polit-Gerangel selbstbewusst und verantwortlich aus. Ihr gilt denn auch das Hauptinteresse der Choreographin. Bridget Breiner, Direktorin des MiR-Balletts, dokumentiert hier (wieder einmal) ihre große tänzerische Überlegenheit – als Schmerzensfrau und Verantwortliche für Hoffnung und Sehnsucht, um das zerbrochene Reich nach dem Tod von Hamlets Vater neu zu festigen.
Was sie in dem knapp zweistündigen Tanzprojekt leistet, ist fantastisch. Ob Modern Dance oder Klassik „auf Spitze“ – Bridget Breiner setzt in dieser komplexen Rolle neue Maßstäbe. Die zweimalige „Faust“-Gewinnerin (als Choreographin!), die nach der Ära Schindowski am Musiktheater im Revier eine neue Aufwärtsbewegung garantiert(e), behauptet sich im brutalen Wechselbad von politischer Ranküne und mütterlicher Liebe. Sie behält die Übersicht im schwierigen Umfeld von Tod, Vergeltung und neuer Zukunft. Sie ist wahrlich eine „Königin“ der tänzerischen Palette, die ihr von Cathy Marston abverlangt wird. Ihr galt nach der gefeierten Premiere folgerichtig der Hauptbeifall. Eine Glücksbesetzung!
Aber die Produktion, die sich ausgerechnet an einem der zitatenreichsten und literarisch dankbarsten Dramen Shakespeares etwas bemüht abarbeitet, besitzt ihre Tücken – auch ihre Schwächen. Zunächst steht der Chauvinismus der Männer-Garde im Vordergrund, erst nach dem Tod von Hamlets königlichem Vater stellt sich der Konflikt dar. Der Beginn ist also zäh, man gewinnt nur punktuell Übersicht über die personale Konstellation. Dann aber nimmt die Sicht von Cathy Marston, Gertrude in das Zentrum zu rücken, an Fahrt auf: Hamlets Liebe zu Ophelia warnt vor der zerstörerischen Kraft einer Schein-Überlegenheit, Hamlet wirkt wie ein störrisches Kind im Teenager-Alter, er ergeht sich in Posen und Duellen. Hamlet ist schließlich der große Verlierer – er scheitert ebenso wie seine Mutter, die sich vergiftet. Gertrude verliert gegenüber den Strukturen und der rigiden Männer-Position sowie ihrer Rolle als Mutter. Sie kann den verblendeten Sohn nicht dauerhaft zur Räson bringen. Hamlet wiederum scheitert an sich selbst und seinen utopischen, unreifen Träumen.
Im neutralen Halbrund der Bühne im Kleinen Haus, die aus transparenten Licht-Schleiern und Schnüren besteht, hinter denen die königliche Tragödie von allen beobachtet werden kann, vollzieht sich ein Schreckenskapitel menschlicher Ohnmacht und düsterer Machtansprüche. Vieles bleibt – im gesamten Beziehungsgeflecht - in mythischer und mystischer Durchdringung rätselhaft, kryptisch.
Aber es wird imponierend getanzt. Das gilt in erster Linie für Bridget Breiner aber auch für Louiz Rodrigues als Hamlet, Tessa Vanheusden als Ophelia, Ledian Soto als Hamlets Onkel Claudius oder José Urrutia als König Hamlet u.a. Die gesamte, leider inzwischen schon personell geschrumpfte Compagnie beweist in komplizierten Abläufen, Wendungen und Stilzitaten ein hohes, sensibles Gespür für die Deutungsvariationen der Choreographin, die auf die Wucht einer antiken Tragödie zielt. Der Einsatz aller ist wirklich sehenswert!
Die wichtige musikalische „Begleitung“ (vom Band zu hören) erklimmt dramatische Gipfel (mit Musik von Alfred Schnittke, Arvo Pärt oder Henry Purcell), fällt aber dann auch in schrille, ohrenbetäubende Unterhaltungscluster (Philipp Feeney) ab. Dass ausgerechnet das deutsche Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ (bearbeitet von Schnittke) die bitterböse, blutige, tödliche Schluss-Sequenz musikalisch „bebildert“, kann nur als ironisches Signal für totales Missverstehen menschlicher Möglichkeiten in historischer Distanz verstanden werden.
Cathy Marston, die am MiR bereits Projekte wie Orpheus und Drei Schwestern verantwortete, beweist aber zumindest eins: Sie betont eine überraschende Perspektive und besitzt viel Fantasie für eine ballettintensive Zweier- und Gruppenartistik.
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Die Frage, ob Handlungsballette noch als zeitgemäß gesehen werden dürfen, wird in der Tanzszene äußerst kontrovers diskutiert. Versteht man darunter die Wiederholung des immer Gleichen und die Beschränkung auf ein schmales, populäres wenn auch, wie im Fall Tschaikowskys und Prokofieffs, hochwertiges Repertoire, könnte man am Sinn der Gattung zweifeln. Wenn man freilich attraktive Stoffe in natürliche und auf der Höhe der Zeit stehende Bewegungsabläufe formt, wie es der Gelsenkirchener Ballettdirektorin Bridget Breiner schon mehrfach, unter anderem mit einer sensationellen Adaption von Alice in Wonderland gelungen ist, erweist sich das gescholtene Genre als äußerst kreativ und vital. Mit einer hinreißenden Ballett-Version des Hamlet-Stoffs durch die britische Choreografin Cathy Marston sorgt Breiner auch dann für Glanzpunkte, wenn sie Gästen das Feld überlässt.
Im intimen Rahmen des Kleinen Hauses lässt Marston die Geschichte des Dänenprinzen in 80 Minuten in einer Klarheit und Eindringlichkeit vorüberziehen, die keine Sekunde Langeweile aufkommen lassen. Obwohl sie auf jeden spektakulären Knalleffekt verzichtet, stimmt an der Produktion alles. Feingefühl und Kraft, organische Wechsel von poetischer Ruhe und vorwärtstreibender Energie, eine ideale Symbiose von Musik und Bewegung: All das sorgt für ein außerordentlich rundes Ergebnis. Die Handlung ist glasklar nachzuvollziehen, nichts wird banalisiert, nichts vergröbert, nichts verzuckert und nichts brutalisiert. Umso feinsinniger stellt Cathy Marston die komplexen Beziehungen zwischen den Figuren heraus, wobei sie eine durchaus „weibliche“ Handschrift erkennen lässt, wenn sie die Rolle der Gertrud zur zentralen Figur aufwertet, die ein geradezu inzestuöses Verhältnis zu ihrem Sohn Hamlet erkennen lässt.
Aber auch hier arbeitet Cathy Marston mit dezenter Sensibilität, so wie die sexuellen Komponenten auch anderer Beziehungen deutlich betont werden. Jedoch nicht durch platte Obszönitäten, sondern durch filigrane Bewegungsabläufe und ein virtuos-raffiniertes Spiel mit Degen, die nicht nur als Waffen, sondern auch als phallische Werkzeuge genutzt werden. So zärtlich die Liebesszenen getanzt werden, so vital und dennoch kontrolliert setzt die Choreografin mit einem geradezu gespenstischen Festgelage deutliche Kontraste. Dabei gehen die Pas de deux‘ von Gertrud und Hamlet wie von Hamlet und Ophelia in ihrer Feinfühligkeit besonders eindringlich unter die Haut. Breiner lässt es sich nicht nehmen, das komplexe Seelenleben der Gertrud selbst zu tanzen. Grandios auch Tessa Vanheusden als Ophelia und Louiz Rodriguez in der Titelpartie, so wie sich die elf Tänzer insgesamt als absolut homogenes Ensemble empfehlen. Zu nennen sind dabei nicht nur José Urrutia als Hamlets Vater, Ledian Soto als Claudius und Carlos Contreras als Polonius, sondern blutjunge Kräfte wie Francesca Berruto, Sarah-Lee Chapman, Hitomi Kuhara und Sara Zinna, die als „innere Stimmen“ manche Szenen elfenhaft umschwirren.
Auch Ines Alda hält sich mit ihren schlichten, aber sinnlich feinen Kostümen sowie ihrem Bühnenbild zurück, wobei sie sich mit einem transparenten Vorhang und einem als Puzzle angelegten Felsbrocken begnügt, der sich aber so variabel nutzen lässt, dass er als Monument, Thron, Bett und Grabstätte dienen kann. Raffiniert die Lichttechnik von Andreas Gutzmer, wenn durch den Vorhang Parallelhandlungen zu sehen sind. Kongenial die Musikauswahl mit Werken Alfred Schnittkes, die von stilisierten Barockklängen bis hin zu einer erstarrten Version von Stille Nacht am bitteren Ende eine irreal bizarre Melancholie verströmen. Atmosphärische Dichte, die Philip Feeney mit eigenen Kompositionen und Arrangements noch vertieft.
Gerade die Konzentration auf den Ausdruck der Bewegung, die greifbare Nähe zur Bühne im Kleinen Haus, der Verzicht auf Opulenz und aufgesetzte Originalität bescheren dem Gelsenkirchener Ballett eine besondere Stellung in der rheinischen Tanzlandschaft. Insbesondere die „kleinen“ Produktionen Breiners und ihrer Gäste strahlen einen einzigartigen Reiz aus, mit dem kein noch so aufwändiger Nussknacker in Essen oder keine noch so innovative Bewegungsstudie in Düsseldorf oder Duisburg konkurrieren kann. Der Beifall des Premierenpublikums fällt entsprechend begeistert aus.
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Um es gleich vorweg zu nehmen: Im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters ist er als ein tänzerisches Meisterwerk zu erleben! Was ist der britischen Gastchoreographin Cathy Marston da gelungen? Sie stellt das mörderische Ringen um die dänische Königskrone als eine Zerreißprobe ohnegleichen dar: ohne Worte, stumm, aber mit einer Intensität an seelischer Ausdruckskraft, an artistischem Wagemut, der kaum zu überbieten ist.
Zur choreographischen Idee hat ihr vor allem eine Musik verholfen, die, ohne an Shakespeare zu denken, genau diese Zerreißproben anstrebt: es sind Sätze aus Instrumentalstücken des russischen Komponisten Alfred Schnittke, in denen tonale und atonale Schichten ineinanderstürzen; und dahinter taucht dann doch, wie eine Oase, Henry Purcells Musik aus der Shakespeare-Zeit auf. Tanzend, hörend und sehend erlebt man „Bi-soziationen“, schöpferische Zusammenstöße: Kunst, die einen existenziell betrifft.
Was die Tänzerinnen und Tänzer, inspiriert durch Cathy Marston, körperlich wie seelisch begreifen und leisten, ist wirklich herausragend: allen voran Ballettdirektorin Bridget Breiner, die als Gertrude, Hamlets Mutter, den schwierigsten Part übernommen hat und ihn geradezu vorbildhaft meistert.
Als Hamlet gelingt es Louiz Rodrigues, den Zwiespalt seiner Rolle ergreifend zu erfassen; Tessa Vanheusden, seine ihn liebende Ophelia - total hingebungsvoll, doch hoffnungslos und am meisten betrogen, wagt die unglaublichsten Tanzfiguren und erschüttert das Publikum wohl am meisten.
Großer Beifall - standing ovations - trotz oder gerade wegen der hohen Ansprüche an Auge, Verstand und Ohr: wieder einmal ist dem Gelsenkirchener Ballettensemble ein Kunstwerk von Rang gelungen.
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Als heroischer Rächer, den Shakespeares Zeitgenossen auf der Bühne so liebten, taugte der melancholische Dänenprinz ohnehin nie wirklich. Auf der heutigen Weltbühne ist er allemal out. Denn was bei "Königs" passiert, hat für unser öffentliches Leben kaum noch Relevanz. Wutbürger des demokratischen Establishments gehen demagogischen Verführungskünsten von Politikern zwar noch immer auf den Leim. Das Gros opponiert freilich nur mit plakativen "Demos", wenn einer wie Trump die politische Macht seines Landes an sich gerissen hat.
So erzählt Cathy Marston die Hamlet-Tragödie eher als private Familientragödie im Glamourlook mit zwischenmenschlichen Brüchen und macht sie konsequent sicht- und hörbar. Mobile Granitblöcke mit polierten Flächen und rauen Bruchstellen dienen in Ines Aldas Bühnendekor als Thron, Grablege, Ehebett und Liebesnest. In einer der eindrucksvollsten Szenen - einem Ball, bei dem alle emotionalen Facetten der Hofgesellschaft aufblitzen und im diffusen Licht auch noch Schatten werfen - schwebt und schwankt gar ein Block bedrohlich über den Tanzenden. Die barocken Kostüme der Akteure werden ergänzt durch hauchzarte, blassblaue, lange Wilis-Tutus für die "inneren Stimmen". Die Musikcollage pendelt - beileibe nicht neu - zwischen peitschend motorischer Moderne von Alfred Schnittke, Arvo Pärt sowie Arrangeur Philip Feeney und der harmonisch barocken Klangwelt Henry Purcells. Weiße Lilien und biegsame Degen sind die einzigen, symbolträchtigen Requisiten in den Händen der Protagonisten. Leben und Tod, Unschuld und Schuld, Trauer und Leid werden verhandelt.
Aber irgendwie kommt Marstons neues Literaturballett doch nicht stimmig rüber. Das liegt vor allem an der allzu hektischen, oft übertrieben aggressiven, brutalen Bewegungsvielfalt zwischen klassischem Spitzentanz und zirzensischer Akrobatik. Da wirkt die psychologisch gewollte Körpersprache geschwätzig und verlogen. Und zum Schluss gerät das Ballett auch noch kitschig, wenn Schnittkes Komposition für Violine und Klavier das Lied aller Lieder zur Weihnachtszeit "Stille Nacht...." mit harschen Dissonanzen durchschneidet.
Allerdings: Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner tanzt die Königin mit superber Technik und darstellerischer Ausstrahlung, sodass der ganze Abend zum Triumph der grandiosen Ballerina gerät. Marston fokussiert ihr angekündigtes Psychogramm eines "trauernden Menschen auf verzweifelter Erkenntnissuche" eher auf die Königin, die hier auf eine fragwürdig altmodische Frauenrolle zwischen beschützender, mitleidender Mutter und folgsamer, wenn auch argwöhnischer Ehefrau des potentiellen Mörders des Gatten reduziert wird.
Der Melancholiker Hamlet steht ganz im Schatten seiner Mutter. Louiz Rodrigues bleibt bei aller physischen Geschmeidigkeit und Eleganz blass. Tessa Vanheusden dagegen überzeugt als zauberhaft fragile Ophelia. Ledian Soto, ganz in schwarz und kahlköpfig, intrigiert in der Idylle der Königsfamilie als furchterregend kalt kalkulierender Thron-Prätendant Claudius. Das vierköpfige "Corps de ballet" à la "Giselle" verströmt einen hinreißenden Hauch von romantischem Ballett. So bietet denn dieser intime Ballettabend immerhin gut gezeichnete Charaktere, ein klares Szenario, stilvolle Kostüme und besten Tanz.
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